Am 26. April 1986 um 6 Uhr morgens saß ich im Flugzeug von Kiew nach Tiflis, Georgien. Ich war 21 Jahre alt und studierte im 8. Semester Germanistik in Kiew. Eigentlich habe ich mit meinen Kamelietonen wie jedes Jahr eine Wanderung in der Nähe von Pripjatj geplant, aber meine Eltern schenkten mir ein Flugticket nach Tiflis, wo ich früher gelebt habe und viele Freunde hatte. Das war mein Glück, weil diese Wanderung im Wald von Tschernobyl stattfand.
Die Zeit in Tiflis verlief zunächst fröhlich und sorglos, bis eine georgische Freundin mich fragte, ob es wahr sei, dass eine Atombombe auf Kiew abgeworfen wurde. Die Frage hielt ich für einen schlechten Scherz. Beunruhigt durch diverse Gerüchte rief ich meine Mutter an. Sie konnte mir nichts Genaues sagen, flehte mich nur an, mein Studium an der Tifliser Staatsuniversität und nicht mehr in Kiew fortzusetzen. Ich solle in Georgien bleiben und auf keinen Fall zurück fliegen.
Trotz der Warnungen meiner Eltern flog ich am 7. Mai zurück nach Kiew, die 120 km von Tschernobyl entfernt ist. Im Flugzeug saßen nur zehn Passagiere. Kiewer Flughafen war voller Menschen. Man hörte das Weinen von Kindern, Beschimpfungen der verzweifelten Eltern bei erfolglosen Versuchen Flugzeugtickets zu kriegen. Die Richtung spielte keine Rolle, es zählte nur eins - raus aus dieser Stadt, möglichst weit weg… Eine alte Frau schaute mich an und sagte zu mir: “Kindchen, was machst du, bist du verrückt nach Kiew zu kommen. Gucke dir das an, alle wollen nur raus aus dieser verseuchten Stadt! Wie im letzten Krieg…“ und weinte.
Die Stadt wirkte auf mich gespenstisch. Im Zentrum waren überall Feuerwehrmaschinen zu sehen, die Häuser und Straßen mit Seifenlauge besprühten. Kiew war wie immer im Frühling besonders schön, aber in diesen Tagen wirkte diese Schönheit unheimlich. Unzählige Parks und Gärten standen in voller Pracht, Duft blühender Flieder herrschte in der Luft. Aber die Parks, Kinderspielplätze, Straßen waren ohne Menschen, man hörte und sah keine spielenden Kinder, keine Hunde, kein Vögelsingen. Die Stadt mit fast 3 Millionen Einwohnern war wie ausgestorben. Alle, die es konnten, haben die Stadt verlassen. Die, die zurück bleiben mussten, waren „Geiseln von Tschernobyl“, die trotz Störungen versucht haben „Stimme des Feindes“ zu hören: Deutsche Welle, Stimme Amerikas, BBC. In sowjetischen Medien hielten Politiker und parteitreue Wissenschaftler beruhigende Reden. Dabei wussten alle, dass die Parteichefs ihre Kinder und ihre Familien schon längst in Sicherheit gebracht hatten. Zur selben Zeit waren die Krankenhäuser überfüllt mit Kindern, den ihre panische Eltern zu viel Jod sogar in flüssiger Form gegeben haben, und mit schwangeren Frauen, die ihre ungeborene Kinder wie auf einer Fließband abtrieben. Es fehlten Anästhesiemittel. Abtreibungen wurden oft unter örtlichen Narkose durchgeführt in einem OP-Saal, wo bis zu 6 gynäkologischen Sessel standen und mehreren Frauen gleichzeitig wurden ihre Träume abgetrieben...
Im Dezember 1987 habe ich als Dolmetscherin eine deutsche Delegation in die onkologische Abteilung eines Kinderkrankenhaus begleitet. Da es auf der Krebsstation nicht genug Betten gab, hat man Abteilung der Unfallmedizin für die krebskranke Kinder zur Verfügung gestellt. Wenn man das einmal gesehen hat, wird es nie vergessen: überall Kinder, jeder Altersgruppe, mit von Hormonbehandlung geschwollenen Gesichtern, kahl rasierte Köpfe... Gefragt nach seinen Weihnachtswünschen guckte uns ein dreijähriger Junge mit seinen großen Augen eines alten Menschen, der viel Leid gesehen hat, an und sagte: „Die Spritzen sollen nicht so weh tun.“ Erst da habe ich angefangen zu verstehen, dass diese Katastrophe noch lange Opfer fordern wird. Seitdem habe ich einen Weg gesucht, um diesen Kindern, und vielen die danach kamen zu helfen. Inzwischen seit 14 Jahren bin ich als ehrenamtliche Dolmetscherin für die Stiftung „Kinder von Tschernobyl“ des Landes Niedersachsen tätig. Ich begleite Delegationen der Stiftung nach Weißrussland und in die Ukraine. Auch diese Reisen bestätigen, dass diese Katastrophe noch lange nicht zu Ende sei.
Der Tschernobyl GAU - eine stille Katastrophe. Als es passierte gab es keine beeindruckende Bilder vom Brand und Menschen, die mit primitivsten Mitteln gegen den unsichtbaren Feind, Radioaktivität, kämpften. Es gab keine Filmaufnahmen, die rund um die Welt gingen und Herzen der Menschen auf der ganzen Welt berührten. Es gab Vertuschungen, Lügen, Geheimhaltung und gezielte Fehlinformation, zuerst im Osten, später und bis heute auch im Westen. Eine stille Katastrophe, die die Gesundheit und das Leben Hunderttausender ruiniert und Ihrer Heimat beraubt hat. Hunderttausende mußten ihre Häuser verlassen und konnten nichts mitnehmen, vor allem mußten sie ihre Haustiere (Hunde, Katzen...) zurücklassen. Über dieses Kapitel der Tragödie könnte ich noch einiges euch erzählen und das mache ich, wenn Interesse bestehen sollte.
Das sind einige Fotos, die ich während meiner Reisen in die Sperrzone gemacht habe.
Ich vor dem Sarkophag, der langsam auseinander bricht.
Pripjatj, Vergnügungspark sollte am 01. Mai 1986 offiziell eröffnet werden. Es kam nie dazu.
Pripjatj, Kindergarten
Kinderspielplatz